Offener Brief an die Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen und kirchliche Organisationen in der Städteregion Aachen
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleg*innen und Freund*innen,
aufgrund jahrzehntelanger, politischer Fehlentwicklungen sehen wir derzeit die Zukunftsfähigkeit unseres Landes stark gefährdet!
Konkret: Durch fehlende Investitionen, falsche Privatisierungen und einem enormen Sanierungsstau summieren sich derzeit die Probleme z.B. im Verkehrssektor (Deutsche Bahn, Straßen- und Brückensanierungen), im Wohnungsbau (v.a. durch fehlende Sozialwohnungen), im Gesundheitssektor (viele Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand), im Erziehungs- und Bildungsbereich (marode Schulgebäude, schleppende Digitalisierung, zu große Klassen, fehlendes Personal) und in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik, wo völlig unzureichende und sozial nicht ausreichend abgefederte Maßnahmen einer stetigen Verschärfung der Lage gegenüber stehen. Darüber hinaus tragen sowohl aktuelle Kriege und weltweite Fluchtbewegungen wie auch die steigende, soziale Ungleichheit mit dazu bei, dass bei einem größer werdenden Teil der Bevölkerung Zweifel an der demokratischen Verfasstheit unserer Landes wachsen, was sich in einem erhöhtem Zuspruch zu Parteien der extremen Rechten (insbesondere der AfD) oder in einer Hinwendung zu abstrusen Verschwörungsfantasien niederschlägt.
In dieser Situation müsste die Politik längst mit massiven Investitionen gegensteuern. Hier einer Schuldenbremse den Vorrang einzuräumen oder gar mit Sparvorschlägen im Sozialbereich punkten zu wollen, während gleichzeitig milliardenschwere Subventionen wie das „Dienstwagenprivileg“ unangetastet oder das Vermögen von Superreichen auch bei Vererbung geschont bleiben soll (in Deutschland werden jährlich allein rund 100 Mrd. € „gewaschen“), wird Deutschland auf Dauer seiner Zukunftsfähigkeit berauben.
Wie schnell aber die Politik reagieren kann, zeigte sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24.02.2022. Bereits am 27.02.22 verkündete Bundeskanzler Scholz in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag die „Zeitenwende“ – und mit ihr das „100 Mrd. Sonderprogramm“ für Rüstung und Militär. Mit diesen Sonderschulden soll in den kommenden Jahren das sog. 2%-Ziel der NATO erreicht werden; und zwar „dauerhaft“, wie der Kanzler im Nov. 23 bei einer Bundeswehrtagung versprach. Doch selbst wenn mensch die Sinnhaftigkeit von mehr Rüstungsausgaben nicht grundsätzlich bestreiten mag, sollte mensch sich klarmachen, was dies konkret für die Zukunft heißt?
Denn die ab 2024 für Rüstung & Militär veranschlagten 2% beziehen sich auf das gesamtwirtschaftlich erzielte Bruttosozialprodukt. Gemessen am Gesamthaushalt der Bundesregierung für 2024 wären das nach April-Schätzungen des IWF (Intern. Währungsfonds) 84 Mrd. €* und damit knapp 20 % des zur Verfügung stehenden Etats. Der Politikwissenschaftler Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung (IMI-Tübingen), auf den diese Berechnungen, Stand 07/2023, nach der vorläufigen Finanzplanung bis 2027 zurückzuführen sind, drückt es wie folgt aus: „2024 werden die Ministerien Bildung (20,3), Gesundheit (16,8), Entwicklung (11,5), Klima (10,9), Wohnen (6,9), Auswärtiges (6,1) und Umwelt (2,4) immer noch rund 10 Mrd. € weniger als die Bundeswehr erhalten“. Richtig ernst werde die Lage dann aber ab 2027, weil damit zu rechnen sei, dass 2026 die Mittel des „Sondervermögens“ aufgebraucht sein werden und das 2%-Ausgabenziel dann alleine durch den Bundeshaushalt finanziert werden müsse. Nach bisherigen Schätzzahlen des IWF müsse 2027 dann ein Rüstungsetat von rund 95 Mrd. € aufgebracht werden. Da der Haushaltsentwurf bislang aber für 2027 „nur“ Rüstungsausgaben von 57,4 Mrd. (im EP 14) plus der Ausgaben nach NATO-Kriterien vorsehe, ergebe „sich eine riesige Lücke von 25 – 30 Mrd. €“, welche dann mit Mitteln aus den anderen Haushaltsposten gedeckt werden müsse.
Das führende Magazin der Rüstungslobby „Europäische Sicherheit & Technik“ hatte dazu auch schon eine Idee, wie das im Rahmen einer „grundlegenden Debatte über die nationalen Prioritäten“ geschehen soll: Entweder durch „die Kürzung sozialer Leistungen oder das Scheitern der Zeitenwende für die Bundeswehr“. Schließlich sei „der einzige Posten im Bundeshaushalt, der die Masse dieses zusätzlichen Bedarfes (nämlich 30 Mrd. €) decken könne, der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales…. Rüstung oder Soziales. Dann wird sich zeigen, wie nachhaltig die viel zitierte Zeitenwende ist“. Und dass solche abstrusen Vorstellungen im politischen Raum und nicht nur bei den rechten Oppositionsparteien durchaus auf Resonanz stoßen, zeigten zuletzt die Diskussionen um mögliche Kürzungen der längst beschlossenen Bürgergelderhöhung (zum Inflationsausgleich für die Bedürftigsten).
Fazit: In den kommenden Jahren droht ein nicht gesehener Sozialer Kahlschlag in einem bislang nie gekannten Ausmaß!
Wir als Deutschlands ältester, pazifistischer Verband und Teil der bundesdeutschen Friedensbewegung können daher nur appellieren, sich rechtzeitig auf diese, an die Substanz unseres Staates gehenden Entwicklungen vorzubereiten und einen Schulterschluss aller kritischen Kräfte zu suchen. Wer wie das o.g. Rüstungsmagazin glaubt, zugunsten einer gigantischen Aufrüstung unseren Sozialstaat zur Disposition stellen zu können, muss wissen, dass er damit auch den Bestand unserer Demokratie auf´s Spiel setzt. Das können und werden wir nicht zulassen!
Mit freundlichen Grüßen
(Die Aktiven der DFG-VK Aachen)
* (51,8 Mrd. aus EP 14, 19,2 Mrd. aus „Sondervermögen“, Rest aus Ausgaben nach NATO-Kriterien, z. B. Wert der Waffenlieferungen an die Ukraine)